Die Schuld der anderen

In ganz Deutschland wurden Jüdinnen und Juden verfolgt, misshandelt und getötet, mindestens 127 von ihnen kamen auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens durch Misshandlungen zu Tode. Selbst nach weiteren sechs Millionen von den Nazis und ihren Schergen in Europa ermordeten Jüdinnen und Juden und insbesondere nach dem Untergang der menschenverachtenden Nazi-Diktatur am 8. Mai 1945 wollten viele Deutsche von all dem nichts gewusst haben, schon gar nicht dabei gewesen sein oder mitgemacht haben, weit verbreitet war die Ansicht, „die Schuld tragen andere“.

Doch dem jahrzehntelang als „Reichskristallnacht“ verniedlichten Terror gingen Jahre der Ausgrenzung und Verfolgung voraus. Die erste Welle staatlicher Willkür gegen Juden setzte bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 ein, mit Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Anwaltskanzleien und Arztpraxen. Diese Aktion verdeutlichte, dass die rund 525.000 Juden in Deutschland von den Nazis nicht als Teil des deutschen Volks betrachtet wurden. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, durch das Beamte „nicht arischer Abstammung“ in den Ruhestand versetzt wurden, fand die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten erstmals Eingang in ein Reichsgesetz. Schnell wurde der „Arierparagraph“ auch auf andere Berufsgruppen übertragen und ermöglichte den „legalen“ Ausschluss aller Juden aus dem Öffentlichen Dienst, den Freien Berufen sowie aus Universitäten, Schulen und der Kultur. Einen noch radikaleren Einschnitt in das Leben der Juden in Deutschland brachten die sogenannten Nürnberger Gesetze von 1935, welche Juden zu Menschen minderen Rechts stempelten. Insgesamt wurden im „Dritten Reich“ etwa 2.000 antijüdische Gesetze oder Ergänzungsverordnungen erlassen.

Mit der willkürlichen Abschiebung von 17.000 als „polnischstämmig“ bezeichneten Juden nach Polen erreichte die antijüdische Politik im Oktober 1938 nochmals eine Verschärfung. Von den Deutschen aus dem Land getrieben und von den Polen nicht ins Land gelassen, irrten die Abgeschobenen im deutsch-polnischen Grenzgebiet umher, bevor sie auf polnischer Seite primitivste Unterkünfte fanden. Der 17-jährige Jude Herschel Grynszpan, dessen Familie unter den Abgeschobenen war, verübte am 7. November 1938 in Paris einen Mordanschlag auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Dessen Tod zwei Tage später Goebbels den Vorwand für den von seiner Propaganda als „spontanen Sühneakt“ inszenierten Staatsterror lieferte. Mit der „Endlösung der Judenfrage“ sollten schließlich ab 1941 alle von den Nazis als Juden definierten Menschen in Europa und darüber hinaus systematisch ermordet werden, die physische Auslöschung erfolgte im industriellen Maßstab durch Gaskammern und Massenerschießungen.

Im Umfeld des Gedenktages an das reichsweite Pogrom zeichnet bis 18. November im NRW-Landtag die Ausstellung „Kristallnacht”, ein gemeinsames Projekt der Stiftungen “Denkmal für die ermordeten Juden Europas” und “Topographie des Terrors” aus Berlin, die damaligen Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung nach. Historische Fotoserien werfen Schlaglichter auf verschiedene Tatorte. Sechs kaum bekannte Fotoserien aus dem Reichsgebiet verdeutlichen, in welchem Ausmaß die Gewalt von einheimischen Tätern ausging. Zugleich wird erstmals die wechselvolle Erinnerung in Deutschland an den 9. November 1938 bis in die Gegenwart dargestellt. Der Präsident des Landtags, André Kuper betonte während seiner Eröffnungsrede: „Die Reichspogromnacht war ein schreckliches Signal des Hasses, getragen von Menschen, die wegsahen, mitliefen oder selbst zu Tätern wurden. Diese Ausstellung zeigt uns eindringlich, dass Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit keine Selbstverständlichkeit sind. Jede einzelne Fotografie, jeder Schauplatz ist ein Stück Erinnerung daran, dass wir wachsam sein müssen gegen Hass, Ausgrenzung und Gewalt. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät und unsere Demokratie wehrhaft gegen den Extremismus ist.“

Wenige Tage zuvor besuchte Landtagspräsident André Kuper während seiner Israelreise das Gelände des Nova Music Festivals und das Dorf Sderot in der Nähe des Gaza-Streifens. Hier hatten Terroristen der islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 mehr als 400 meist junge Juden ermordet oder verschleppt. Es war die erste Reise einer Delegation aus Nordrhein-Westfalen mit Vertreterinnen und Vertretern aller drei Staatsgewalten sowie der Religionsgemeinschaften nach Israel. Gemeinsam legten sie Blumen nieder und gedachten der Opfer des Massakers. Einwohner von Sderot berichteten vom Angriff der Hamas und dem jahrelangen palästinensischen Raketenterror auf Schulen und Stadt. In palästinensischen Gebieten sprach André Kuper über die aktuelle Lage nach dem Waffenstillstand. Suleiman Khourieh, Bürgermeister von Taybeh, berichtete der Delegation aus NRW von Übergriffen radikaler jüdischer Siedler.

André Kuper: „In Deutschland beobachten und analysieren wir den Konflikt aus der Entfernung. Aber hier, wenn man mit den Menschen spricht, bekommt der Schrecken ein Gesicht. Die Schilderungen von den barbarischen Taten der Hamas-Terroristen in den Kibbuzim und beim Nova Music Festival und von der ständigen Angst vor Raketen sind uns allen in der Delegation zu Herzen gegangen. Wir sind auch betroffen von den Berichten der Menschen, die in den palästinensischen Gebieten unter Übergriffen leiden und Angst um den Bestand ihrer Dörfer haben. Es fällt uns schwer, die Widersprüche auszuhalten. Wir wünschen uns Frieden in der Region, sehen aber die Trauer und die Wut. Fast jeder unserer Gesprächspartner berichtete von Toten oder Verletzten aus der eigenen Familie. Der Weg zum Frieden ist lang.“

​DBB NRW – Beamtenbund und Tarifunion Nordrhein-Westfalen 

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