Der 52-jährige Jarzombek vertritt seit 2009 seinen Düsseldorfer Wahlkreis im Deutschen Bundestag. Von 2017 bis 2021 war er Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt und Beauftragter für Start-ups und Digitale Wirtschaft im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie sowie Beauftragter des Bundeswirtschaftsministeriums für digitale Wirtschaft und Startups. In der letzten Legislaturperiode war Thomas Jarzombek Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Bildung und Forschung und Mitglied im Ausschuss für Digitales des Deutschen Bundestages. Der 1. Vorsitzende des DBB NRW, Roland Staude und Marcus Michel, Chefredakteur des DBB NRW-Magazins, trafen Thomas Jarzombek zu einem Gespräch in seinem Büro in Berlin über Gedanken zur Digitalisierung und Staatsmodernisierung.
Marcus Michel: Eine Überlegung, die wir hatten, war das Thema Benutzerkonto. Also für jeden Bürger ein Benutzerkonto, mit dem er staatliche, administrative Angelegenheiten erledigen kann. Wir hatten intern mal drüber gesprochen: Stichwort Elster-Formular. Da gibt es ja schon 23 Millionen Benutzerkonten. Ob das möglich wäre, diese zusätzlich auch in den Bereich Administrierung und öffentliche Verwaltung auszurollen. Als Ad-hoc-Maßnahme quasi.
StS Thomas Jarzombek: Ich glaube, wir müssen jetzt ein einheitliches und zukunftsfähiges System aufbauen. Es gibt bereits verschiedene Identifikationssysteme. Die eID wird inzwischen von etwa einem Viertel der Bevölkerung genutzt, das zeigen aktuelle Zahlen des eGovernment-Monitors. Dazu kommt Elster, das ebenfalls weit verbreitet ist, wobei man unterscheiden muss, wie viele Nutzer tatsächlich eine vollqualifizierte Signatur haben. Diese Systeme wollen wir zusammenführen, insbesondere in unsere EUDI-Wallet (European Digital Identity). Darüber sollen Bürgerinnen und Bürger künftig alle Behördengänge erledigen können. Die große Frage ist, wie wir die Menschen in diese Wallet bringen. Sicherlich werden eID, ID-Konto und Elster dabei eine entscheidende Rolle spielen. Wichtig ist, ein System zu schaffen, das nicht alle, aber doch die allermeisten nutzen.
Roland Staude: Probleme in diesem Kontext sind die unterschiedlichen Verfahren, die es immer gibt. Wir haben den Bund, dann die Landesebene und dann kommt natürlich die kommunale Ebene. Und da ist die Entwicklung inzwischen eine ganz andere. Viele Kommunen haben interkommunale Zusammenarbeit. Ich habe das mal erlebt bei Abstandsanzeigen auf den Autobahnen, dass die überhaupt nicht kompatibel waren mit denen vom Land. Corona hat es ja auch gezeigt, dass teilweise noch Faxe verschickt worden sind. Jetzt habe ich das so verstanden, schon eine Einheitlichkeit im System generell und praktisch für alle Gebietskörperschaften zu implementieren. Ist das so ein Wunschgedanke?
StS Thomas Jarzombek: Bei der Identifikation funktionieren die Systeme schon heute weitgehend zuverlässig und sind akzeptiert. Geht es jedoch um Verwaltungsleistungen, kommen immer mehr Kommunen auf uns zu, Stichwort „Dresdner Forderungen“. Kleinere Gemeinden können bestimmte Leistungen wirtschaftlich kaum noch selbst stemmen, etwa eine Zulassungsstelle. Hier sind wir offen, zentrale Services anzubieten. Der Staat muss das nicht zwingend selbst betreiben, sondern kann auch Ausschreibungen machen und externe Anbieter einbinden. So entsteht eine gemeinsame Basis, an die sich Kommunen anschließen können. Manche Kommunen wünschen sich sogar, dass eine Teilnahme verpflichtend wird, um mehr Einheitlichkeit zu schaffen. In Deutschland gibt es eine starke Tradition kommunaler Selbstständigkeit, das war lange eine Stärke. Im Digitalzeitalter aber ist es oft sinnvoller, eine gute Lösung zentral bereitzustellen, statt sie vielfach neu zu entwickeln.
Marcus Michel: Von der Umsetzung, von dem Aufbau, ich sage jetzt mal, einer Bundes-App, die die Nutzerinnen und Nutzer dann verwenden können. Von der Programmierung her, wird das eher extern vergeben oder gibt es, ich sage mal, Bundesprogrammierer, die das einmal aufsetzen und dann wird das in die Fläche ausgerollt? Oder wie ist das angedacht?
StS Thomas Jarzombek: Beim Thema Zulassungswesen sprechen wir nicht über eine App, sondern über einen Dienst, an den sich Kommunen anschließen können, in der Regel über Internetportale. Grundsätzlich muss der Staat vorsichtig sein, wenn er eigene Apps entwickelt. In der Vergangenheit wurden viele Apps gebaut, die am Ende wenig überzeugen konnten. Darum setzen wir auf die Wallet als zentrales Projekt. Sie ist der Einstiegspunkt, bietet sichere Kommunikation und ermöglicht Push-Mitteilungen von Behörden. Uns ist wichtig, auf offene Schnittstellen und Wettbewerb zu setzen. Denn nur so entstehen Lösungen, die die Menschen auch wirklich begeistern. Die Frage, wie man Bürgerinnen und Bürger motiviert, digitale Angebote zu nutzen, wurde bisher unterschätzt. Anwendungen müssen einfach, attraktiv und nutzerfreundlich sein – nicht nur eine lästige Pflichtübung.
Roland Staude: Gesetze spielen ja auch eine besondere Rolle. Ich will vielleicht noch mal auf das Thema Zulassungswesen zurückkommen. Also, im Bereich der Zulassungsstellen sind ja eigentlich die meisten Polizeieinsätze innerhalb der Kommune. Da geht es ja um Urkundenfälschung und dergleichen. Muss man da teilweise auch parallel verfahren, weil ja oft noch die Vorlage von Originalunterlagen zwingend gesetzlich vorgesehen ist. Oder versucht man zunächst, dass im digitalen Rahmen zu schaffen und ändert dann gegebenenfalls die Gesetze oder läuft das parallel?
StS Thomas Jarzombek: Ich bin mir nicht sicher, ob es hier noch Gesetzesänderungen braucht. Heute können Autos bereits digital über i-KFZ zugelassen werden. Alle relevanten Dokumente enthalten Codes, über die das funktioniert, ob Plakette, Zulassungsschein oder Fahrzeugbrief. Natürlich gilt auch hier das 80/20-Prinzip: Etwa 80 Prozent der Vorgänge, wie Neuwagenzulassungen, lassen sich vollständig digital und automatisiert abwickeln. Bei älteren Fahrzeugen mit Papierdokumenten sind manuelle Schritte weiterhin nötig. Zentrale Services sind besonders dort sinnvoll, wo sich digitale Verfahren standardisiert umsetzen lassen.
Marcus Michel: Zum Beispiel auf dem Nummernschild den QR-Code.
StS Thomas Jarzombek: Ja, auch bei der Zulassungsplakette. Über i-KFZ funktioniert das bereits, ebenso über die Codes auf Zulassungsschein und Fahrzeugbrief. Wie so oft gilt das 80/20-Prinzip: Rund 80 Prozent der Vorgänge, vor allem Neuwagenzulassungen, lassen sich vollständig digital und automatisiert abwickeln. Bei älteren Fahrzeugen mit Papieren aus der Zeit vor den digitalen Kennzeichen sind hingegen noch manuelle Schritte erforderlich. Zentrale Services machen dort besonders Sinn, wo Abläufe konsequent digital und automatisiert umgesetzt werden können.
Roland Staude: Andere Frage, also auch der vorhandenen Stärken. Im Juni 2024 ist das Online-Zugangsgesetz 2.0 in Kraft getreten und das verspricht eine Deutschland-ID als zentrales Bürgerkonto, was wir bereits angesprochen haben. Ist es bei dieser Herausforderung nicht wichtig, dass man eigentlich die besten Köpfe für die Umsetzung gewinnen muss? Beste Köpfe bedeutet natürlich auch, dass vielleicht das normale Bezahlungsgefüge auseinanderdividiert wird. Wie kann man an die besten Köpfe kommen? Weil ich glaube, das ist manchmal, gerade im öffentlichen Bereich, oft noch ein Hemmnis.
StS Thomas Jarzombek: Ja, das ist in der Tat eine Herausforderung. In einigen Bereichen werden am Markt deutlich höhere Gehälter gezahlt, als wir sie im öffentlichen Dienst bieten können. Wir müssen daher insgesamt konkurrenzfähig bleiben, um gute Leute für die Verwaltung zu gewinnen. Die Gehälter entwickeln sich zudem sehr dynamisch: Bei Softwareentwicklern sind sie zeitweise stark gestiegen, durch den verstärkten Einsatz von KI sinken sie in manchen Bereichen inzwischen wieder. Unsere Antwort darauf ist der Aufbau einer Digitalagentur, die wir bereits angestoßen haben. Dort haben wir flexiblere Möglichkeiten, etwa Fachkräfte für befristete Projekte einzustellen. Viele IT-Experten, gerade im Mittelstand, möchten gar nicht 20 Jahre im selben Unternehmen arbeiten, sondern für eine bestimmte Zeit an spannenden Projekten mitwirken und sich dann neuen Aufgaben widmen. Diesem Wunsch nach Flexibilität können wir entgegenkommen. Am Ende brauchen wir Angebote, die den unterschiedlichen Profilen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerecht werden.
Marcus Michel: Stichwort Bürokratieabbau. Gibt es konkrete Ideen, wie nicht nur die Bürger von Bürokratie entlastet werden, sondern auch die Verwaltung? Wir hören ja immer wieder, auch von unserer Bundesorganisation, dass bundesweit 600.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst fehlen. Gibt es da schon Impulse oder Ideen, wie man vielleicht durch Harmonisierung oder Veränderung der Abläufe die Verwaltung optimieren könnte?
Roland Staude: Ich muss sagen, da habe ich immer meine Faust in der Hosentasche, weil ich die Frage immer mal wieder bekomme. Zum einen sage ich dann, Bürokratisierung, sind überwiegend Vorgaben, die insbesondere aus dem politischen Raum kommen. Auf der anderen Seite, wenn man ehrlich ist, weiß man, dass die meisten Vorgaben ja von der europäischen Ebene kommen und dann vom Bund. Länder und Kommunen haben zwar auch eigene Befugnisse, ich sag mal bewusst, Recht zu setzen, aber Kommunen machen ja keine Gesetze, sondern es sind Verordnungen oder Satzungen. Man spricht jedoch vom Fokus her immer nur über Bürokratieabbau für die Privatwirtschaft, was wir uns eigentlich wünschen, wäre jedoch der Bürokratieabbau für die Verwaltung, denn dort werden unheimlich viele Ressourcen gebunden. Da erhoffen wir uns eigentlich, ich glaube, man muss auch im Kontext sehen, dass wir mit der Digitalisierung im Allgemeinen und der KI im Besonderen zukünftig hier weiter vorankommen. Vor fünf Jahren haben wir über KI gar nicht in diesem Ausmaß gesprochen, heute haben wir fast jede Woche eine neue Version. Was ist das für eine Entwicklung und wie kann man dabei überhaupt auf dem neusten Stand bleiben? Und welche Chancen ergeben sich daraus für den Bürokratieabbau?
StS Thomas Jarzombek: Bürokratie beginnt in erster Linie in der Verwaltung. Bürger, Unternehmen und Verwaltung sitzen dabei im selben Boot: Weniger Vorschriften bedeuten automatisch weniger Aufwand für alle. Deshalb lassen sich diese Dinge nicht voneinander trennen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Bürokratiekosten um 25 Prozent zu senken. Dazu arbeitet inzwischen ein Staatssekretärsausschuss mit dem Normenkontrollrat direkt zusammen. Ziel ist es, Verfahren, Vorschriften und Aufgaben tatsächlich abzubauen. Gleichzeitig müssen wir uns ehrlich eingestehen: Auf allen Ebenen entstehen ständig neue Aufgaben und Ideen. Wir müssen lernen, uns auch konsequent von Dingen zu verabschieden – das fällt uns traditionell schwer.
Die zweite Schiene ist der Einsatz moderner Technologien. Hier bietet insbesondere generative KI enorme Chancen. Heute existiert eine fünfstellige Zahl an Verwaltungsverfahren, oft auf alten Systemen, die bisher nicht automatisiert zugänglich waren. Den Versuch, all diese Verfahren neu zu programmieren scheitert regelmäßig, weil die Kommunen zahlen müssten und viele Verfahren nur selten genutzt werden. Mit generativer KI können wir das anders lösen: Sie verhält sich wie ein virtueller Sachbearbeiter, bedient Eingabemasken, prüft Ergebnisse und zieht die relevanten Daten heraus. Deshalb wollen wir diesen Ansatz gezielt vorantreiben. Er erlaubt es, mit wenigen Lösungen eine Vielzahl an Verfahren zu adressieren – besonders dort, wo hohe Fallzahlen bestehen oder nur ein einzelner Schritt fehlt, um ganze Prozesse vollständig zu automatisieren.
Roland Staude: Sie haben eben unterschwellig auch das Thema Aufgabenkritik angesprochen. Ich sag mal, dass der Begriff belastet ist und deswegen spreche ich immer von einer objektiven Aufgabenüberprüfung.
StS Thomas Jarzombek: Ja, wir beschäftigen uns jede Woche mit neuen Aufgaben, aber genauso wichtig ist es, zu überlegen, was wir künftig nicht mehr machen.
Roland Staude: Genau, das finde ich auch ein wesentliches Kriterium.
StS Thomas Jarzombek: Mein Sohn ist immer begeistert, wenn ich ihn frage: „Was möchtest du nicht mehr machen?“. Da läuft der Prozess einmal umgekehrt.
Roland Staude: Genau. Und natürlich muss Verwaltung dann auch sagen, wovon man sich perspektivisch trennen kann. Ich glaube auch allein aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen, die wir haben, ist das für die Zukunft eine entscheidende Frage. Hier müssen die Gewerkschaften, zumindest sind wir auch bereit dazu, entsprechend konstruktiv mitarbeiten. Auf der anderen Seite haben wir aber auch festgestellt, und das gehört für mich zur Aufgabenkritik auch hinzu, dass der Staat immer mehr Gesetze erlässt oder zusätzliche Aufgaben definiert. Ob es die ganztägige Kita-Betreuung ist oder dergleichen, wo man eigentlich heute schon weiß, dass man diese Aufgaben gar nicht erfüllen kann.
StS Thomas Jarzombek: Ja, Aufgabenkritik muss in beide Richtungen gehen. Natürlich gibt es Themen wie die Kita-Betreuung, die eine gesellschaftliche Veränderung widerspiegeln und wo zusätzliche Aufgaben des Staates sinnvoll sind. Aber daneben gibt es unzählige kleinteilige Vorhaben. Da stellt sich die grundsätzliche Frage: Was ist wirklich Aufgabe des Staates und was sollten Bürgerinnen, Bürger oder Unternehmen selbst leisten?
Ein zweiter Punkt ist die Kontrolle. Muss wirklich alles immer wieder vollständig geprüft werden? Beim BAföG haben wir deshalb vorgeschlagen: Statt jedes Jahr alle Belege neu einzureichen, sollen Studierende lediglich bestätigen, dass ihre Anspruchsvoraussetzungen weiter bestehen – mit klaren Strafen bei falschen Angaben. Solche Verfahren würden den Prüfaufwand massiv reduzieren. Stichprobenkontrollen oder ein erhöhter Strafrahmen können die Verwaltung deutlich entlasten.
Natürlich kann auch KI helfen, Belege auszuwerten. Aber selbst dann müssten Studierende noch alle Unterlagen einreichen und das ist oft schwierig. Nicht in allen Familien herrscht Einigkeit, viele junge Menschen haben große Probleme, fehlende Unterlagen von einem Elternteil zu bekommen. Genau deshalb setzen wir auf das Prinzip „Once Only“: Wer einen Antrag stellt, soll nicht mehr selbst alle Nachweise zusammentragen müssen. Stattdessen erfolgt automatisch eine digitale Prüfung, ob die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.
Roland Staude: Das geht jetzt auch ein bisschen einher mit dieser digitalen Teilhabe. Die digitale Verwaltung soll ja letztendlich für alle da sein und auch von allen nutzbar sein. Wir haben ja auch eine Seniorenvertretung bei uns. Da stellt man hin und wieder fest, dass sich Seniorinnen und Senioren teilweise schon ein bisschen schwer damit tun.
StS Thomas Jarzombek: Ich glaube, wir werden in der nahen Zukunft enorme Fortschritte sehen, ähnlich wie beim Thema generative KI. Vor zweieinhalb Jahren haben viele Menschen mit ChatGPT erstmals Künstliche Intelligenz bewusst genutzt. Seitdem hat sich die Entwicklung rasant beschleunigt, mit riesigen Investitionen und enormen Entwicklerressourcen. Bald werden wir Assistenzsysteme haben, die sich mit einfacher Sprache steuern lassen. Gerade für ältere Menschen bedeutet das eine große Erleichterung: Sie müssen sich nicht mehr durch komplizierte Formulare quälen, sondern können ihre Anliegen per Sprache erledigen, selbstverständlich auch Verwaltungsleistungen.
Roland Staude: Ja, das wünsche ich mir und perspektivisch glaube ich an diese Entwicklung. Aber ich glaube auch, dass die Übergangszeit die Schwierigkeit darstellt.
StS Thomas Jarzombek: Das sehe ich genauso, und ich glaube, die Entwicklung wird relativ schnell gehen. Entscheidend ist dabei, dass wir KI-Systeme mit verlässlichen Daten trainieren. Die heutigen GPT-Modelle basieren auf dem gesamten Internet und damit auch auf einer Menge fehlerhafter Informationen. In einem geschlossenen System mit geprüften, zuverlässigen Daten lassen sich dagegen deutlich bessere Ergebnisse erzielen.
Roland Staude: Schadet der Föderalismus eigentlich der Digitalisierung? Also, ich spreche jetzt mal ganz bewusst auch diesen Flickenteppich im Bildungsbereich an. Da sind natürlich die Länder oft auch sehr selbstbewusst unterwegs. Wir haben jetzt gerade in Nordrhein-Westfalen die politische Diskussion, dass Grundschullehrer im Bereich der Oberstufe eingesetzt werden sollen, um dort Personalfluktuation oder Spitzen entsprechend abzufangen. Das finde ich oder finden wir grundsätzlich – da unterscheiden wir uns ein bisschen von unserer Lehrergewerkschaft – eigentlich den richtigen Ansatz, weil das ja überwiegend durch G8 und G9 gekommen ist. Aber für diese Flexibilität ist der Föderalismus manchmal ein Hemmnis, weil die Länder schon sehr auf ihre eigenen Rechte und Möglichkeiten beharren. Wahrscheinlich spielt auch die Haushaltssituation eine Rolle aber wir haben es immer auch befürwortet, dass es auf der Bundesebene das Digitalisierungsministerium gibt. Wir haben unter anderem als DBB – ich war in der glücklichen Situation – im Vorfeld auch mit unserem ehemaligen Verfassungsrechtler Prof. Andreas Vosskuhle darüber zu sprechen, Stichwort „Handlungsfähiger Staat“. Er hat mir schon vor der Bundestagswahl etwas Cooles gesagt: „Also ich könnte mich darauf verlassen, dass das Digitalisierungsministerium kommt.“
StS Thomas Jarzombek: Unser Auftrag besteht jetzt darin, pragmatische Lösungen zu entwickeln, die den Menschen zeitnah das Leben erleichtern. Über den Föderalismus kann man lange diskutieren, am Kamin oder Stammtisch, aber die Realität ist: Es gibt gute Gründe dafür, dass es ihn in Deutschland gibt. Er verhindert Entwicklungen, die wir in der Vergangenheit erlebt haben. Gleichzeitig ist es weder realistisch noch politisch durchsetzbar, den Föderalismus abzuschaffen.
Ich habe dreieinhalb Jahre Bildung und Forschung in unserer Fraktion verantwortet und gesehen, dass diese Grundsatzdebatten oft von der eigentlichen Problemlösung ablenken. Eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für Änderungen ist derzeit ohnehin kaum möglich, und die Länder vertreten ihre eigenen Interessen. Deshalb konzentrieren wir uns darauf, mit dem bestehenden System bessere Ergebnisse zu erzielen. Und da gibt es reichlich Spielraum. Wenn ich sehe, wie viel die Bundesregierung selbst noch verbessern könnte, dann haben wir in den nächsten ein, zwei Jahren genug damit zu tun, unseren eigenen Hof in Ordnung zu bringen, bevor wir auf andere zeigen.
Roland Staude: Ja, ich meinte schon diesen Flickenteppich, den es jetzt bei den unterschiedlichen Lernplattformen ja gibt.
StS Thomas Jarzombek: Aber wird wirklich alles besser, wenn man zentralisiert? Ich nenne ein Beispiel aus meinem Wahlkreis in Düsseldorf: Eine Schule hat frühzeitig ein eigenes Lernmanagementsystem eingeführt, mit viel Engagement und Anpassungen an die eigenen Bedürfnisse. Dann kam das Land und sagte: „Wir zentralisieren das jetzt.“ Es wurde eine neue Plattform entwickelt, die alle Schulen nutzen sollten. Für die betroffene Schule bedeutete das, nach drei Jahren Arbeit wieder von vorne anfangen zu müssen – und obendrein war das neue System schlechter. Für die Kommunen war es zwar kostenlos, das Land aber hat enorme Summen investiert.
Darum bin ich ein großer Befürworter der Subsidiarität. Die Praktiker vor Ort wissen in der Regel am besten, was funktioniert. Lehrerinnen und Lehrer sind hochqualifiziert, sie brauchen niemanden, der ihnen wie Kindern vorschreibt, welches System sie nutzen sollen. Ich bin überzeugt: Der Unterricht wäre besser, wenn man den Lehrkräften mehr Freiheiten gäbe, ihre Ideen umzusetzen. Viele sind frustriert, weil sie gute Ansätze haben – gerade auch für Schulen in sozialen Brennpunkten – aber durch Vorgaben von oben ausgebremst werden, die vom Schreibtisch stammen und nicht aus der Realität des Klassenzimmers.
Marcus Michel: Stichworte Datensicherheit und digitale Souveränität. Wir lassen ja viel über amerikanische Firmen, Anbieter und Server laufen. Gibt es da irgendwelche Ideen oder Impulse, etwas wieder zurück nach Europa zu holen?
StS Thomas Jarzombek: Ja, es gibt reichlich Ansätze, aber wir müssen ein ganz anderes Ambitionsniveau erreichen. In der Vergangenheit waren wir da zu halbherzig. Ein Beispiel: Mit Phoenix haben wir im Bochumer Zentrum Digitale Souveränität eine Gesellschaft gegründet, die einen Open-Source-Arbeitsplatz entwickeln soll. Die Idee ist hervorragend, allein die jährlichen Lizenzgebühren, die wir an Microsoft zahlen, zeigen, dass sich das wirtschaftlich schnell lohnen könnte. Aber mit kleinen Teams und knappen Budgets lässt sich schwer ein konkurrenzfähiges Produkt gegenüber den großen Anbietern aufbauen. Ähnlich verhält es sich im Cloud-Bereich.
Darum haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt: Der Staat soll als Ankerkunde auftreten. Wir wollen Produkte entwickeln, die wirklich funktionieren – nicht nur für die Verwaltung, sondern auch für Unternehmen. Denn nur mit einer ausreichenden Größe und einem entsprechenden Volumen lassen sich konkurrenzfähige Angebote schaffen. Genau das treiben wir jetzt voran, auch im Cloud-Bereich und bei KI. Dazu gehört zum Beispiel die geplante Giga-Factory, für die sich Konsortien in Deutschland beworben haben und die wir mit staatlicher Kofinanzierung unterstützen.
Gleichzeitig müssen wir die Vergabepraxis verbessern. In der Vergangenheit haben wir zu oft an US-Anbieter vergeben, statt europäische Lösungen einzubeziehen. Warum also beim Thema KI und Schule unbedingt ChatGPT und nicht etwa Mistral aus Frankreich, ein europäischer Champion? Hier ist viel Luft nach oben. Besonders wichtig ist es, Start-ups einzubeziehen. Fast alle großen Digitalunternehmen waren am Anfang Start-ups. Wenn wir bei der Digitalisierung wirklich vorankommen wollen, müssen wir jungen Gründerinnen und Gründern mit guten Ideen und Innovationskraft Aufträge geben.
Dafür brauchen wir einen Kulturwandel. Zu oft hieß es bislang: „Mit der Firma haben wir noch nie gearbeitet, die hat keine Verwaltungserfahrung und keine lange Bilanz.“ Wer mit solchen Kriterien startet, landet am Ende immer bei IBM oder Microsoft. Gegen deren Produkte ist nichts einzuwenden, aber das führt zu Monotonie und verhindert Kreativität. Für mich persönlich ist es ein Herzensthema, dass wir innovativen Start-ups eine echte Chance geben.
Roland Staude: Ich komme noch mal auf den Bereich innere Sicherheit zurück. Herbert Reul hat mir mal erzählt, dass es eine besondere Herausforderung ist, Schritt zu halten mit der Digitalisierung im Bereich des organisierten Verbrechens. Weil die Polizei oder wir als Verwaltung zu schwerfällig sind und nicht hinterherkommen. Zudem sprach er unter anderem auch davon, dass er sich eine Verbesserung durch eine Zentralisierung versprechen würde. Ist das auch mit dem Fokus?
StS Thomas Jarzombek: Das ist ein komplexes Thema, für das es nicht die eine Lösung gibt. Gerade durch KI ist es für Kriminelle heute einfacher denn je, eigene Apps oder Systeme zu entwickeln. Die Diskussion, verschlüsselte Messenger zu öffnen, halte ich für eine rote Linie, das darf es nur mit richterlichem Beschluss und bei schwerster Kriminalität geben. Denn sobald WhatsApp und andere Messenger staatlich geöffnet würden, würden Kriminelle sofort eigene Systeme nutzen. Dieses Hase-und-Igel-Spiel kann man nicht mit einem einzigen Schritt gewinnen.
Viele Landeskriminalämter haben bereits aufgerüstet, und auch wir haben mit ZITiS, der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich, eine Behörde geschaffen, die hier unterstützt. Trotzdem bleibt es ein ständiges Wettrennen. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung aber auch Chancen: Ein Beispiel ist die Schutzgelderpressung in Gastronomie und Hotellerie. Durch den verstärkten Einsatz bargeldloser Zahlungen geraten die Strukturen der organisierten Kriminalität zunehmend unter Druck.
Marcus Michel: Da würde ich aber jetzt kurz noch mal einhaken. Stichwort: bargeldloses Zahlen. Gibt es da Bemühungen oder Initiativen, dass man das flächendeckend verpflichtend macht?
StS Thomas Jarzombek: Nein, Bargeld wird es immer geben. Aber es ist eine unternehmerische Entscheidung, ob ein Betrieb Bargeld akzeptiert oder nicht. Manche Unternehmen entscheiden sich bewusst dagegen, um sich etwa vor bestimmten Strukturen zu schützen. Einen Bargeld-Annahmezwang wird es ebenso wenig geben wie eine Pflicht zur Kartenzahlung. Am Ende haben die Menschen die Wahl: Wenn ein Bäcker nur noch Karte nimmt, findet man sicher auch einen anderen, der weiterhin Bargeld akzeptiert.
Das zeigt ein Grundprinzip: Der Staat muss nicht alles vorgeben. An diesem Punkt sollten Unternehmen selbst entscheiden können, wie sie ihr Geschäft gestalten, ohne dass der Staat vorschreibt, wie das Leben auszusehen hat.
Roland Staude, Marcus Michel: Lieber Herr Staatssekretär, wir bedanken uns für das Gespräch.
DBB NRW – Beamtenbund und Tarifunion Nordrhein-Westfalen