Je nach ideologischem Blickwinkel der Betrachtenden, damals wie heute, war es eine Vereinigung oder ein „Anschluss“, wie auch die Antwort auf die Frage, ob die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ in den ostdeutschen Ländern tatsächlich auch erwachsen sind. Als Ostdeutscher aus der Umgebung der Bitterfelder Braunkohletagebaue und Chemiekombinate kann ich Ihnen und Euch sagen, sie sind!
Aus dem Staub zerfallener Innenstädte, dem Dreck maroder Industrieanlagen sowie dem Schlamm vergifteter Flüsse und Tagebaue entstanden im Osten, über all die Jahre seit der Einheit, innerstädtische und landschaftliche Schmuckstücke aber auch moderne Industriebetriebe, die allerdings nicht mehr für jede und jeden eine Beschäftigung bieten konnten. Begünstigt durch ideologische Spalter, trübte dann die Unzufriedenheit über die persönliche Situation hier und dort den Blick auf das Erblühen Ostdeutschlands. Angesichts des Verlustes seines Arbeitsplatzes oder vielleicht auch des zu DDR-Zeiten entbehrungsreich instandgehaltenen Hauses und Hofes an einen Alteigentümer aus dem Westen sowie andere systembedingte Einschnitte und Brüche im Lebenslauf, dem persönlichen Umfeld oder aufgrund wirtschaftlicher Unbedarftheit, ist die kritische Betrachtung dieser Zeit und ihrer Folgen an der ein oder anderen Stelle sogar nachvollziehbar und verständlich.
Und von einem „Anschluss“ kann man schon deswegen nicht sprechen, da die Ostdeutschen nach der Friedlichen Revolution im Herbst 1989, der erzwungenen Streichung des kommunistischen Führungsanspruches in der DDR-Verfassung sowie der erkämpften ersten freien Volkskammerwahl, am 18. März 1990 mehrheitlich für Parteien stimmten, die sich bereits zu diesem Zeitpunkt offen gegen weitere sozialistische Experimente oder eine „bessere DDR“ (wie auch immer die funktionieren sollte) gewandt hatten und stattdessen für eine schnelle Wiedervereinigung eintraten. Der spätere SPD-Bundesinnenminister Otto Schily war es, der noch an diesem Wahlabend in der ARD den ostdeutschen Wählerinnen und Wählern dafür eine Banane vorhielt und ihre Wahlentscheidungen für die „Allianz für Deutschland“ aus CDU, DSU und DA schnodderig verächtlich machte, indem er diese auf einen materiellen Beweggrund reduzierte. Für viele Ostdeutsche damals das erste Symbolbild westdeutscher Arroganz, des „Besser-Wessis“.
Auch für uns, damals noch Jugendliche, waren diese Umbrüche prägend. Als der Autor mit der Einführung des dreigliedrigen Schulsystems in seiner anhaltischen Heimat zum Schuljahr 1991/92 auf das neue Gymnasium wechselte, stellten sich in der neuen Klasse alle Schülerinnen und Schüler vor. Natürlich erzählte man auch etwas über seine Familie. Die Ernüchterung: Jeder meiner Mitschülerinnen oder Mitschüler, hatte, wie auch ich, mindestens einen Elternteil, der von Arbeitslosigkeit betroffen war. Oftmals zog sich dieses Thema durch die restliche Schulzeit, sorgte bei uns jedoch für die notwendige Motivation unsere schulischen und beruflichen Chancen zu ergreifen, nötigenfalls auch in einer anderen Region oder im Ausland. Denn egal in welchem Land oder System, Bildung kann dir keiner wegnehmen!
Ob Aufbauhelfer oder Glücksritter, ob genutzte Berufs- und Bildungschancen oder Langzeitarbeitslosigkeit, ob aus dem Schokoriegel „Raider“ nun „Twix“ wurde und sich ansonsten nur die Postleitzahl änderte, der Einigungsprozess lief auf beiden Seiten nicht ohne Veränderungen oder Opfer ab. Mal mehr, mal weniger. Und ja, natürlich sind Ostdeutsche grundsätzlich dankbar für die langjährigen Transferzahlungen und die erfahrene Aufbauhilfe in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, auch wenn das, zwecks „Meinungsbildung“ in den überwiegend aus dem Westen geführten Presse- und Medienhäusern, oftmals zu kurz kam und, siehe oben, stattdessen Einzelschicksale als emotionaler Beleg für den vermeintlichen Undank der Ostdeutschen oder der „Solidaritätszuschlag“ auf die Einkommenssteuer (der übrigens auch im Beitrittsgebiet eingezogen wurde) als Ursache für den oftmals politisch verschleppten, wirtschaftlichen Strukturwandel in manchen Regionen Westdeutschlands herangezogen wurde.
Ob Ost oder West, ob „neue“ oder „alte“ Bundesländer, ob Deutschland oder Europa, jede und jeder hat sein persönliches Erleben und seine Sicht auf 35 Jahre Deutsche Einheit. Auch das ist gelebte Vielfalt in unserem Land. Statt daher nur auf die vergangenen Jahre zu schauen und uns über die Erfolge und Misserfolge oder die vermeintlich „richtige“ Sichtweise auf die Deutsche Einheit und den fortlaufenden Einigungsprozess zu streiten oder gegenseitig zu belehren, sollten wir vielleicht wieder mehr miteinander über unsere Zukunft sprechen, über Zuversicht und Zukunftschancen aber auch über Sorgen und Nöte.
Denn nur gemeinsam können wir die anstehenden Herausforderungen der Zukunft durch den demographischen Wandel, den Erhalt der globalwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und unseres sozialen Wohlstandes, den technologischen Fortschritt sowie die klimatischen Veränderungen bewältigen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch, auch im Namen des DBB NRW, einen frohen und nachdenklichen Tag der Deutschen Einheit!
Ihr Marcus Michel
(Referent Public Affairs DBB NRW)
DBB NRW – Beamtenbund und Tarifunion Nordrhein-Westfalen