NRW Magazin: Von den rund 450 Millionen Einwohnern der Europäischen Union leben 18 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen, das sind 4 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung. Was tun Sie als verantwortlicher Minister dafür, dass unser Land auf europäischer Ebene angemessen wahrgenommen wird?
Minister Liminski: Nordrhein-Westfalen liegt im Herzen Europas. Unsere Größe, Wirtschaftskraft und die vielfältigen internationalen Verbindungen von Menschen und Unternehmen gerade auch ins europäische Ausland bringen einerseits besondere Möglichkeiten mit sich und andererseits auch eine besondere Verantwortung, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Als Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten bin ich Botschafter für unsere NRW-Anliegen in Berlin und Brüssel. Das heißt, im Austausch mit allen entscheidenden Akteuren – von den Mitgliedern des Europaparlamentes über den Rat und Europäischen Ausschuss der Regionen bis hin zur Kommission – unsere NRW-Interessen zu artikulieren. Das ist selten Glanz, Glorie und Gala, eher Klinkenputzen, Kraftakt und manchmal auch Keilerei. Zentral ist dabei unsere Landesvertretung in Brüssel, die unser Sprach- und Hörrohr auf der europäischen Bühne ist. Zudem arbeite ich mit den Europaabgeordneten aus NRW zusammen, auch überparteilich, wie etwa jüngst beim Medienfreiheitsgesetz. Auch suchen wir den Schulterschluss mit Regionen ähnlicher Prägung, wie etwa Hauts-de-France in Frankreich, Flandern in Belgien und Schlesien in Polen. Und wir nutzen besondere Formate wie die Benelux-Union, in der wir seit 2008 Mitglied sind.
NRW Magazin: Für viele Menschen ist die EU weit weg. In vielen Diskussionen wird die EU oft als Bürokratiemonster oder bezüglich Deutschlands Transferzahlungen an „ärmere“ Mitgliedsstaaten als „Fass ohne Boden“ tituliert. In welchem Umfang profitieren die Menschen in NRW von der Europäischen Union? Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Minister Liminski: Die Vorteile der Europäischen Union sind für jeden Einzelnen von uns im Alltag spürbar, von der gemeinsamen Währung über das grenzenlose Reisen bis hin zum Wirtschaften im Binnenmarkt. Und mit Blick auf die Hauptleserschaft des dbb-NRW-Magazins will ich den Schutz der Arbeitnehmerrechte nicht unerwähnt lassen. Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Bochum bis Bukarest genießen durch die EU bestimmte Mindestrechte in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Aber in diesen Zeiten sollte auch darüber hinaus jedem und jeder wieder klar werden, warum das Friedensprojekt Europa aktueller denn je ist. Staaten in der EU haben mehr Frieden und Stabilität als schon die Nachbarstaaten an der EU-Außengrenze. Das ist kein Zufall. Und dann kommt das Alternativszenario hinzu: Stellen wir uns nur einen Moment einmal vor, wir würden nicht gemeinsam unsere Werte und Interessen in der Welt vertreten. Wir wären ein Spielball zwischen den großen Mächten, zumal in geopolitisch so konfrontativen Zeiten wie jetzt. Und das würde jeder von uns in seiner Freiheit – privat wie beruflich – zu spüren bekommen.
NRW Magazin: Viele Städte in NRW haben Städtepartnerschaften in Europa und der ganzen Welt. Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und Verwaltungen? Und wie unterstützt das Land diese Partnerschaften?
Minister Liminski: Städtepartnerschaften sind eine der nachhaltigsten Friedensbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg. NRW-Kommunen pflegen Verbindungen in die ganze Welt, generell oder auch zu ganz konkreten Themen. Die Klimafolgenanpassung ist zum Beispiel ein zentrales verbindendes Thema von Düsseldorf und dem französischen Toulouse, weil man davon ausgehen muss, dass das heutige Klima dort unseres in einigen Jahrzehnten sein wird. Was mich freut und auch stolz macht, sind die neu entstandenen Kooperationen in Folge des Hamas-Angriffes auf Israel und des Krieges in der Ukraine. So zeigen auch unsere Kommunen ihre Solidarität. Gab es 2022 vor dem russischen Angriffskrieg nur sechs Partnerschaften mit der Ukraine, sind es inzwischen 39. Diese Dynamik von Partnerschaft in ein Kriegsgebiet hinein ist alles andere als selbstverständlich. Weil wir um die starke Wirkung solcher subnationalen Beziehungen wissen, würdigt das Land solches Engagement unter anderem mit der Auszeichnung „Europaaktive Kommune“ und unterstützt gleichzeitig, wo es geht, den Aufbau dieser Städtepartnerschaften. Über die neue Landesinitiative Europa-Schecks können sich Kommunen oder Partnerschaftsvereine aus NRW beispielsweise um finanzielle Unterstützung bewerben. Des Weiteren haben wir bei der Auslandsgesellschaft eine Netzwerkstelle Städtepartnerschaften angesiedelt, die kommunale Akteure berät, und es gibt einen regelmäßigen Austausch mit den EU-Beauftragten in den Kommunen.
NRW Magazin: Zum europäischen Erfolgsmodell im Bildungsbereich hat sich das Erasmus-Programm entwickelt. Seit dem Start des Programms 1987 wurden 13 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei ihrem ausländischen Bildungsaufenthalt gefördert. Zugleich fördern viele Unternehmen den europäischen Austausch ihrer Beschäftigten, zum Sammeln von Auslandserfahrungen. Wie kann das Programm weiterentwickelt werden, zum Beispiel konkret für Beschäftigte im Öffentlichen Dienst europäische Austausch- oder Weiterbildungsangebote anzubieten? Wäre das im Wettbewerb um die besten Köpfe nicht auch eine attraktivitätssteigernde Trumpfkarte für den Öffentlichen Dienst?
Minister Liminski: Wie bereichernd Auslandsaufenthalte sein können, habe ich selbst erfahren, als ich während meines Studiums Praktika im Ausland gemacht und ein halbes Jahr an der Sorbonne in Paris ein Erasmus-Semester absolviert habe. Das sind wichtige Erfahrungen. Wir wollen, dass möglichst viele junge Menschen auch abseits der Universitäten sie machen können. Gemeinsam mit Unternehmen fördern wir als Land die Initiative „Europa – Erleben und Lernen“. Sie ermöglicht Auszubildenden Auslandsaufenthalte und Einblicke in EU-Themen. Hier können sich natürlich auch Verwaltungen mit ihren Azubis beteiligen. Überhaupt ist es mir ein persönliches Anliegen und auch Teil des schwarz-grünen Zukunftsvertrages für NRW, die Europakompetenz unserer Landesverwaltung zu stärken. In Zeiten des Fachkräftemangels kann das tatsächlich ein entscheidender Pluspunkt sein. Wir starten in diesen Wochen ein neues Exzellenzprogramm Europa, mit dem wir interessierten Mitarbeitern aus allen Ressorts Aufenthalte an den beiden Landesvertretungen in Berlin und Brüssel ermöglichen, um Einblick in die Koordination der Europapolitik durch NRW-Vertreter sowie durch Institutionen des Bundes und der EU zu erhalten. Zudem ermöglichen wir mit Abordnungen zu EU-Institutionen eine persönliche Weiterentwicklung. Solche Auslandserfahrungen und Einblicke in andere Behörden erweitern den eigenen Horizont ja nicht nur sprachlich, sondern helfen auch, Routinen und Rahmenbedingungen im eigenen Land neu zu bewerten.
NRW Magazin: Nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, dem Brexit, werden zunehmend auch hierzulande populistische Stimmen laut, welche eine Mitgliedschaft Deutschlands in der EU hinterfragen oder einen „Dexit“, den Austritt Deutschlands aus der EU, propagieren. Wie würden Sie diese Menschen von einem Verbleib in der EU überzeugen. Unter welchen Umständen könnte Großbritannien in Zukunft wieder Mitglied der EU werden?
Minister Liminski: Populisten und Extremisten nähren die wahnwitzige Vorstellung, dass ein sogenannter Dexit zu mehr Sicherheit, Wohlstand und Freiheit führen würde. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Der Blick nach Großbritannien zeigt uns doch, was wir verlieren, wenn wir nicht Teil der EU wären: Der Brexit hat den Briten viele Vorteile mit Blick auf die Mobilität von Unternehmen, Arbeitnehmern, Studierenden, Auszubildenden und Schülern genommen. Und er hat sie 163 Milliarden Euro im Jahr gekostet und die Wirtschaftsleistung ist heute im Vergleich zum Verbleib in der EU etwa sechs Prozent niedriger. Wer findet das gut? Unsere hiesige Wirtschaft hat selbst mit Zahlen, Daten und Fakten jüngst auf die katastrophalen Folgen hingewiesen, die ein Wegbrechen des EU-Binnenmarktes für die exportorientierte NRW-Wirtschaft bedeuten würde. Allein für NRW hat das Institut der Deutschen Wirtschaft berechnet, dass rund ein Fünftel der gesamten Wertschöpfung und damit 138,9 Milliarden Euro an EU-Exporten hängen. Über die eng mit dem Binnenmarkt verknüpften Wertschöpfungsnetze werden zudem knapp 1,7 Millionen Arbeitsplätze gesichert. Das entspricht jedem sechsten Arbeitsplatz in NRW. Das Brexit-Szenario auf Deutschland übersetzt, müssten wir in NRW den Verlust einer halben Million Arbeitsplätze befürchten. Wer kann das wollen? Und vor allem: Wofür? Die Mehrheit der Briten scheint den Brexit inzwischen als Fehler erkannt zu haben. Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, sie irgendwann wieder in die EU aufzunehmen. Das wird dann allerdings nicht von heute auf morgen klappen und klaren Kriterien folgen müssen.
NRW Magazin: Erstmals dürfen auch junge Menschen ab 16 Jahren an der Europawahl teilnehmen. Wie würden Sie Jung und Alt motivieren, am 9. Juni 2024 von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen?
Minister Liminski: Wir sprechen häufig von einer Schicksalswahl. In diesem Fall will ich den Begriff ganz bewusst nutzen, weil es am 9. Juni um die Frage geht, ob Europa entscheidungs- und handlungsfähig bleibt, wenn es darum geht, unsere eigenen Interessen und Werte in der Welt zu vertreten. Deshalb nutze ich derzeit jede Möglichkeit, um auf Veranstaltungen, bei Verbänden oder in Schulen auf die Wahl und ihre Wichtigkeit hinzuweisen. Viele der Initiativen unterstützen wir als Land mit unserer neuen niedrigschwelligen Landesinitiative „Europa-Schecks“. Zusätzlich haben wir eine Europawahl-Kampagne auf Instagram und TikTok gestartet. Sie zeigt in kurzen Videos konkrete Vorteile der EU und richtet sich vor allem an ein jüngeres Publikum. Genauso sehe ich die Parteien der Mitte in der Pflicht, die Jugend direkt und altersgemäß anzusprechen, vor allem dort, wo sie im Alltag viel Zeit verbringen. Wir dürfen den digitalen Raum nicht den extremen Parteien und Europa-Gegnern überlassen. Europa wird in der Welt nur dann erfolgreich für Freiheit und Recht einstehen und wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir unser Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen. Genauso wie wir die EU brauchen, kommt es jetzt auf uns und unsere Stimme bei der Europawahl an. Es braucht eine Mehrheit derjenigen, die am härtesten an Lösungen arbeiten – nicht derjenigen, die am lautesten schreien. Machen statt Meckern – das ist das Gebot der Stunde.
Das Interview führten Roland Staude und Marcus Michel
DBB NRW – Beamtenbund und Tarifunion Nordrhein-Westfalen